2023

Fotografen: Elias Tulchynsky, Martin Erhardt

EX TEMPORE – 8. Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik, 30.9.-3.10. 2023

Bericht von Emma Reynaud

„Was ist historische Improvisation?“

Mit diesen Worten eröffnet Martin Erhardt, Festivalleiter, am 30.09.2023 das erste Konzert des viertägigen Improvisationsfestival EX TEMPORE für Alte Musik. Diese Bezeichnung, historische Improvisation, scheint in sich fast eine Antonymie zu tragen. Sie beschreibt zunächst ein vergangenes Geschehen, etwas was zur Geschichte gehört und gleichzeitig die Kunst des Moments, eine Musik die gerade erdacht wird und erklingt. Die historische Improvisation ist gleichzeitig die Suche nach Authentizität und das neu Schöpfen. Sie ist eine Praxis, die vor 300, 400, 500 Jahren verbreitet war; sie ist jetzt Geschichte und wird doch gerade wieder lebendig. Dies ist der Fokus des Leipziger Improvisationsfestivals: eine Praxis, die Musik aus ihrer Zeit heraus zieht – Ex Tempore.

Zum achten Mal fand das Festival zwischen dem 30.9. und 3.10. statt und ließ sich in den Räumlichkeiten der Hochschule für Musik und Theater Leipzig am Dittrichring nieder, Ort der Zentrale und Treffpunkt der Künstler und vieler Festivalbesucher. Darüber hinaus konnte das Festival in diesem Jahr auch mit vielfältigen Konzertorten in Leipzig aufwarten: mit dem Kammermusiksaal der HMT Leipzig oder der Michaeliskirche am Nordplatz, aber auch untypische Orte mit jedoch großem Charme wie das UT Connewitz, eines der ältesten noch erhaltenen Lichtspieltheater Deutschlands oder dem Foyer der Hochschule für Grafik und Buchkunst, das sich für einen Abend in einen Konzertsaal verwandelte. Neben dem künstlerischen Aspekt mit den vier Konzerten widmet sich das Festival ebenfalls der Pädagogik: Zwölf Workshops fanden über drei Tage statt, geleitet von Künstlern des Festivals und anderen Gästen. Das Publikum konnte am 1.10. im Rahmen der Konzerteinführung mehr über das Programm „Melopeia“ und die im Konzert angewandten Improvisationstechniken erfahren in den Erklärungen von Ivo Haun und Barnabé Janin. EX TEMPORE ist auch ein Diskussionsforum und Meinungsaustausch mit dem Podiumsgespräch, dieses Jahr über den Platz der historischen Improvisation im Musikstudium an Hochschulen („Historische Improvisation zwischen Theorie und Praxis? Oder ist eine Alte-Musik-Ausbildung jenseits des an Hochschulen etablierten Fächerkanons denkbar?). Zuletzt, einer der Höhepunkte des Festivals, fanden zwei Jam Sessions statt, welche Gelegenheit für Festivalbesucher und Künstler boten, zusammen zu improvisieren, das im Workshop gelernte zu anwenden, und feierlich dem Festivaltag mit all seinen vielen Eindrücken, Emotionen und Ohrwürmern einen Punkt zu setzen. Die achte Edition des Festivals wurde von einem zahlreichen und internationalen Publikum besucht.

Zum Auftakt des Festivals erklang im Konzert „SUPER FLUMINA BABYLONIS“ die Orgel des Kammermusiksaals in einer Re-inszenierung der Treffen zwischen Johann Adam Reincken und Johann Sebastian Bach (1701/1720). Dies war ebenfalls die erste Begegnung zwischen den Darstellern der beiden Komponisten, dem Cembalisten und Organisten Freddy Eichelberger aus Marseille – im Konzert als Reincken zu hören – und dem Organisten und Professor für Orgel an der Weimarer Musikhochschule Martin Sturm als Bach. Im Zentrum dieses Programms stand der 137. Psalm „An Wasserflüssen Babylons“ (Super flumina Babylonis). Der 16-jährige Bach soll nach Hamburg gefahren sein um den renommierten Reincken spielen zu hören, und tief beeindruckt davon gewesen sein, wie Reincken in epischer Länge über jenen Choral fantasierte. Es kam kurz vor dem Tod Reinckens zu einem zweiten Treffen zwischen den beiden Improvisatoren, nun war Bach der Ausführer und bekam lobende Worte Reinckens zu seiner Improvisation über den 137. Psalm. Gemeinsam sangen Publikum und Künstler den Choral „An Wasserflüssen Babylons“ bevor Freddy Eichelberger das erste Treffen wiederspielte und im Stil Reinckens in der ersten Konzerthälfte improvisierte. Im Kontrast zur Ruhe und Gelassenheit Eichelbergers, übernahm Martin Sturm den zweiten Konzertteil und füllte den Saal mit Bachscher Genialität in einer fulminanten und stürmischen Improvisation.

Die Sänger*innen des zweiten Konzerts „MELOPOEIA“ kannten sich noch nicht, als Martin Erhardt sie eingeladen hatte, gemeinsam auf die Bühne, für ein Programm mit improvisierter Polyphonie der Renaissance zu treten. So widmeten sich die Sänger*innen des französischen Ensembles Coclico, Lise Viricel, Josquin Gest, Benjamin Ingrao, Eric Chopin und Barnabé Janin (Leitung), und der Sänger und Lautenist Ivo Haun aus Basel dem Thomaskantor Sethus Calvisius (1556-1615) und seinem Traktat „Melopoeia“ in dem er sich zum Botschafter der italienischen Kunst des Kontrapunktes in Deutschland macht.

Die sechs Sänger vereinigten in diesem Programm die verschiedenen Facetten der Kontrapunktimprovisation, von Kanons bis hin zu Polyphonie über einem Cantus Firmus. Diese hohe Kunst, damals zu den intellektuellen Sphären gehörend, wurde mit Leichtigkeit und Humor – eine große Stärke des Ensembles Coclico – auf pädagogische und hoch künstlerische Weise dem Publikum nähergebracht, welches von der natürlichen Musikalität, der gepflegten Stimmen und den virtuosen Improvisationstechniken beeindruckt und berührt war. Der spielerische Aspekt der Improvisationskunst wurde zwei Mal in den Vordergrund gestellt, als der Modus (Kirchentonart) des zu improvisierenden Stückes vom Publikum gewählt wurde und als Barnabé Janin und Ivo Haun sich einen musikalischen Wettkampf lieferten, in dem die zwei Beteiligten so oft wie möglich ein Motiv singen sollten, dessen Töne dem Vornamen einer Person aus den Künstlern oder dem Publikum entnommen wurden (Barnabé wurde in die Töne „fa fa re“ verwandelt).

Besonders in Erinnerung bleibt die beeindruckende Fähigkeit der Sänger*innen, nicht nur die eigene Stimme zu improvisieren, sondern auch eine bis zwei anderen Stimmen gleichzeitig sich auszudenken und den Mitwirkenden mit Hilfe der Guidonischen Hand (ein pädagogisches Hilfsmittel, das seit dem Mittelalter benutzt wurde, wo alle Gelenke und Fingerspitzen einen Ton darstellen) zu zeigen; oder auch die zwei Vilancicos von Luys de Milan gesungen von Ivo Haun, artiste complet, der sich selber auf der Renaissance-Laute begleitete, für deren Zartheit und wunderschönen Einfachheit, und die Ruhe die sie diesem bunten und spannenden Programm verliehen; und auch das kommunikative Musizieren innerhalb des Ensembles. Das ergreifende Programm, seine verzaubernde musikalische Ausführung, die Interaktion mit dem Publikum, welches zwischen Emotion und Lachen wechselte, macht dieses Konzert eindeutig zu einem Höhepunkt der 8. Edition von EX TEMPORE.

Im historischen Kinosaal des UT Connewitz fand am dritten Tag des Festivals, dem 2.10., das Konzert „CARO SASSONE“ mit dem Ensemble all’improvviso statt. Festivalleiter Martin Erhardt (Blockflöte und Cembalo) improvisierte mit Michael Spiecker (Barockvioline), Dozent für den Kinder-Workshop seit in den letzten Editionen, Miyoko Ito (Viola da Gamba), Claudius Kamp (Barockfagott) und Christoph Sommer (Laute). Der in Halle geborene Kosmopolit Händel unternahm in seinen jungen Jahren eine Italienreise, während der er den italienischen Stil und die italienische Gattung par excellence – die Oper – aus der Nähe kennen lernte und sich aneignete. Das Ensemble all’improvviso zusammen mit der Sängerin Marie Luise Werneburg beschäftigte sich mit den Solo-Kantaten aus Händels Italienzeit. Bei diesen „cantate con voce sola“ ist neben dem Gesang nur die Generalbassstimme überliefert, jedoch kann man sich gut vorstellen, dass diese Kantaten mit zusätzlichen obligaten Melodiestimmen improvisatorisch ergänzt wurden. Und das tat all’improvviso auch! Die Arien der vier Kantaten „O lucenti, o sereni occhi“, „Care selve, aure grate“, Sarei troppo felice“ und „Allor ch’io dissi addio“ bekamen eine oder zwei improvisierte Instrumentalstimmen, die meisterhaft dem Topos jedes Instrumentes entsprach: die flexible, melodische und teilweise virtuose Oberstimme der Geige oder der Flöte, die arpeggienreiche Klangsprache der Viola da Gamba, mit ihrer stets wechselnden Funktion zwischen harmonischer Begleitung und zweiter melodischer Stimme, der Walkingbass des Fagotts. Neben den Kantaten improvisierten die Musiker*innen zwei Instrumentalwerke: eine Tanzsuite auf Basis der Air aus der „Wassermusik“ und – ein besonders spannender Moment des Konzerts – eine Triosonate. Der Fagottist Claudius Kamp zusammen mit dem Violinist Michael Spiecker und Martin Erhardt an der Blockflöte machten großen Eindruck mit dieser Triosonate. Viele Zuhörer erinnern sich an den 2. Satz, die Fuge, in der die drei Musiker auf eine sehr spielfreudige und kommunikative Art spontan die Rollen tauschten zwischen Dux (führende Stimme), Comes (antwortende und begleitende Stimme) und Bass, blitzschnell aufeinander reagieren in den modulierenden Zwischenspielen und Themeneinsätzen. Hier wie im zweiten Konzert genoss das Publikum neben einem Ensembleklang und Zusammenspiel von hoher Qualität die Lockerheit, das humorvolle miteinander musizieren und die freundliche Atmosphäre, die von der Bühne ausstrahlte.

Auf den Jakobsweg führte uns das Abschlusskonzert „PILGERFAHRT“ mit dem Ensemble PER-SONAT. Voller Zartheit zeichnete das Konzert das Ende des Festivals, mit den selten zu hörenden Klängen der beiden mittelalterlichen Fideln, gespielt von Baptiste Romain und Elisabeth Rumsey zusammen mit den Frauenstimmen von Dorothea Jakob, Sarah M. Newman, Christine Mothes, Tessa Roos und Sabine Lutzenberger (Leiterin des Ensembles). Mit diesem Programm aus Gesängen für den heiligen Jakob taucht das Ensemble ein in die Wurzeln der Polyphonie. Das Ensemble PER-SONAT kehrte auf frühzeitliche Improvisationstechniken einer zweiten Stimme – Improvisation eines Organums – mit dem Vorbild des Codex enchiriadis aus dem 9. Jahrhundert oder der Lehre Guido di Arezzos und bietet innerhalb dieses Programmes eine Mélange aus bereits notierten Polyphonien aus dem Codex Calixtinus (12. Jahrhundert), improvisierten Organa, stets mitgestaltet und begleitet von den Fideln, und einem Instrumentalstück, das Arrangement eines Hymnus in dem Stil einer Estampie – einer der ersten Instrumentalgattung. Unter der hohen Decke der Michaeliskirche schwebten die sphärischen Klänge dieses letzten Konzerts für ein meditatives Erlebnis. Hatte das Festival mit Reincken und Bach begonnen, welche die Kunst des Kontrapunktes zu ihrem Höhepunkt im 18. Jahrhundert brachten, so kehrten wir hier zurück zu dem Ursprung der Polyphonie, zur Geburtsstunde der mehrstimmigen Improvisation.

EX TEMPORE widmet sich nicht zuletzt der pädagogischen Mission. Dieses Jahr fanden zwölf Workshops zu den diversesten Themen wie Improvisation über Standards der Renaissance und des Barocks, Modale Improvisation im Mittelalter, Cantare super librum, Orgelimprovisation, und, wie in jeder Edition, der Kinderworkshop für die jüngsten Instrumentalisten, sowie ein Tanzworkshop statt. Besucht wurden die Veranstaltungen von zahlreichen Teilnehmenden: Laien, Studierende, Profis. Einige Workshops waren für die Teilnehmenden die Gelegenheit, von den Künstlern des vorherigen Konzertes, sich in den am Abend zuvor bestaunten Improvisationstechniken zu üben. Zwei Workshops dienten als Vorbereitung für die abendlichen Jam Session, in welchen alle, Erfahrene zusammen mit weniger Erfahrenen, gemeinsam musizierten und improvisierten oder tanzten nach Anleitung von Mareike Greb, Leiterin des Tanzworkshops.

Das Festival schuf auch dieses Mal einen Ort des Treffens und des Austausches: Künstler, die sich noch nicht kannten und zum ersten Mal in Leipzig gemeinsam auftraten, Festivalbesucher, die sich in den Workshops kennenlernten, die in den Jamsessions gemeinsam musizierten. Es entstanden Ideen, Lernlust, Projekte und Freundschaften.

Übrig bleiben die Ohrwürmer, Bilder und Erinnerungen, die sorgfältig gepflegt und behalten werden, um mit Geduld und Vorfreude zwei Jahre auf die 9. Edition zu warten.

Herzlichen Dank an Martin Erhardt für die tolle Ideen und die ebenso tolle Umsetzung, an sein Team (Dreh- und Angelpunkt Kulturprojekte sowie alle anderen helfenden Hände) für die ganze Organisation, an die Förderer und Kooperationspartner und natürlich an alle Festivalbesucher.

2021

Fotografen: Klaus Hartig, Christoph Nuck, Martin Erhardt

EX TEMPORE – 7. Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik, 23.-26. September 2021

Bericht von Annegret Fischer

„Variatio delectat“ – „Veränderung erfreut“, dieses Prinzip der historischen Improvisation hat Festivalleiter Martin Erhardt zum siebenten Mal auf das Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik Ex Tempore übertragen. Extemporieren tat z.B. Johann Sebastian Bach, wenn er aus dem Stegreif spielte und sich spontan Musik ausdachte. Eine Grunderwartung an professionelle Musiker bis ins 19. Jahrhundert hinein, gegenüber der das heute so dominante virtuose Spiel eigener oder fremder Kompositionen völlig im Hintergrund stand. Stilgerechte Improvisationskunst ist also das Stichwort. Auch 2021 gab es wieder ein exklusives Programm, allein vier Konzertpremieren und zwölf verschiedene Workshops, dazu zwei Vorträge und zwei Jam Sessions. In den Konzerten wurden wieder mit Vorliebe Künstlerinnen und Künstler zusammengebracht, die noch nie gemeinsam auf der Bühne gestanden haben, und es traten verschieden Künste in den Dialog.

So konnte das Publikum zur Eröffnung am Donnerstagabend in der Reformierten Kirche ein Improvisationskonzert mit Blockflötenconsort erleben, und zwar den Festivalleiter selbst zusammen mit Sheng-Fang Chiu, Andreas Böhlen und Jostein Gundersen. Im Programm mit dem Thema WURZELN ging es um die Bassanos, eine Familie von Blockflötisten, die 1540 von Venedig nach London fliehen musste und über 100 Jahre am englischen Hof „den Ton angegeben“ hatte. Es erklangen Madrigale, Cantus Firmi und Tanzstücke, die die Bassanos entweder komponiert hatten, gekannt haben mussten oder so ähnlich auch improvisiert haben könnten. Erhardt und Kolleg*Innen boten eine grandiose Vorstellung von virtuosen Improvisationsdialogen und -duellen, dazu waren sie mit ihrem entspannten, warmen Blockflötenton klanglich perfekt aufeinander abgestimmt wie ein Ensemble, das schon jahrelang miteinander spielt. Besonders beeindruckend: Ihre Improvisationen „Upon Ut re mi fa sol la“ und über das vermeintlich einfache volkstümliche Lied „Browning“. Bei letzterem Stück warfen sich die Blockflötisten die musikalischen Bälle zu und tauschten in Windeseile immer wieder die Rollen von Improvisation und Melodie, und das bei gleich hohen Flöten – ein erstaunlicher klanglicher Effekt. Das Sahnehäubchen: Tänzerin und Tanzmeisterin Mareike Greb tanzte live zur Improvisation einer Tanzsuite und rückte so die Nähe von Tanz und Musik der Renaissance ins Bewusstsein. So improvisierte das Consort über den englischen Klassiker „Fortune my Foe“ eine Tanzfolge bestehend aus Pavan, Galiard, Almand und Corant; und dazu improvisierte Mareike Greb mit Grazie und Kennerschaft ihre Schritte nicht nur im Grundschritt, sondern auch zahlreiche Verzierungen und virtuose Sprünge.

Am Freitagabend war das Festival zu Gast im Zimeliensaal des Grassimuseums. Inmitten der Sammlung historischer Instrumente erklang ein Tastenkonzert zum Thema FREUNDSCHAFT. Emmanuel Le Divellec schlüpfte in die Rolle des frühbarocken Komponisten und Tastenvirtuosen Matthias Weckmann, Markus Schwenkreis in die seines Zeitgenossen und Freundes Johann Jakob Froberger. Sie stellten ein fiktives Treffen der beiden Musiker dar, aber keinen Wettstreit um eine „güldene Kette“, wie er für ihre erste Begegnung 1649/50 in Dresden belegt ist, sondern mit der Idee, wie sie nach einer guten Mahlzeit gemeinsam musiziert haben könnten. Es klang aber mitnichten nach Mittagstief und zu viel Alkohol, sondern die beiden Organisten improvisierten so präsent, berührend, hochvirtuos und ideenreich mit viel Empathie für einander, dass man schier vergaß, in einem Improvisationskonzert zu sein. Was für eine Meisterleistung, dieses Programm in dieser Qualität und Länge gleich zwei mal nacheinander zu geben, denn es waren nur 35 Zuhörende pro Konzert im Saal erlaubt. Die besondere Herausforderung war zudem, dass alle drei verwendeten Instrumente – eine Orgel und zwei Cembali – einen anderen Stimmton hatten und die Musiker auch transponieren mussten, wenn sie gemeinsam oder direkt aufeinander folgend spielten. Und das taten sie sehr oft, denn eine der Ideen war, dass einer eine Toccata als Präludium improvisierte und der andere ein darauf folgendes Stück. Beide bekamen öffentlich am Abend zuvor von Martin Erhardt ein musikalisches Thema für das Konzert, über welches improvisiert werden sollte. „Weckmann“ improvisierte eine Choralbearbeitung auf der Orgel über „Hinunter ist der Sonnen Schein“ (Melchior Vulpius 1609) und „Froberger“ improvisierte Variationen über „Fortune my Foe“ – das bekannte englische Lied über die Schicksalgöttin Fortuna, welches schon im ersten Konzert am Abend zuvor und auch bei beiden Sessions erklang. Gemeinsam improvisierten die Herren (einen zu transponierenden Ganzton zwischen sich) mehrere Stücke, so auch eine äußerst gelungene Passacaglia zum Abschluss. Der amüsante Höhepunkt des Programmes war ein „Lamento über das bedauerliche Fehlen zuverlässiger Postkutschenverbindungen“. Mit einigen Verspätungen und Durchsagen („Wegen eines vorausfahrenden Ochsenwagens verzögert sich unsere Ankunft…“) wurden die Zieltonarten nach und nach erreicht. Anfangstöne der Improvisation waren d und b; ein Schalk, wer Arges dabei denkt.

Am Samstag Abend gab es ein interdisziplinäres Konzert mit dem Motto BRÜCKEN. Das Scroll-Ensemble aus Den Haag spielte Improvisationen nach Johann Sebastian Bach zu Live-Malerei des Leipziger Malers Torsten Pfeffer. Auch der Raum „spielte mit“; das Atrium der Hochschule für Graphik und Buchkunst Leipzig mit seinen drei offenen Stockwerken und einer berauschenden Akustik bot einen glamourösen Rahmen für die Performance der Künstler. Robert de Bree, James Hewitt und Iason Marmaras improvisierten fantasievoll und meisterhaft in immer wechselnden Besetzungen: Cembalo, Gesang, Violine, Bratsche, verschiedene Blockflöten und Barockoboe, was für eine musikalische Farbenpracht! Im Laufe einer guten Stunde entstanden drei raumfüllende großformatige und vier kleinere Gemälde, die Pfeffer mit großer Ruhe und Konzentration mit Farbe und graphischen Elementen füllte. Dabei konnte man erleben, dass er auch als Musiker und Perkussionist immer wieder Akzente setzte und Teil des Ensembles wurde, mit Rezitationen und den Geräuschen des Farbauftrages, des Wassereimers, eines Stuhles oder mit einer tiefen Standtrommel, die er u.a. zur Begleitung der Improvisation über den Bass der Goldbergvariationen nutzte. Das Publikum durfte während des Konzerts „wandeln“ und die Perspektive auf das Geschehen und die Akustik ändern, was gern angenommen wurde und zu einem in seiner Gänze faszinierenden Konzerterlebnis beitrug.

Das Abschlusskonzert HOHELIED am Sonntag Nachmittag wurde von „Lokalmatadorinnen“ bestritten, die schon allein ein Garant für ein volles Haus in Leipzig sind: die a-cappella-Formation Sjaella, bestehend aus sechs jungen Frauen, die bereits als Zwölfjährige angefangen haben, gemeinsam zu singen. Auch Ihnen wurde eine herausfordernde Aufgabe gestellt – sie standen zum ersten Mal mit dem Baseler Zinkenisten Josué Meléndez auf der Bühne, der mit seinen Improvisationen im Diminutionsstil ihren mehrstimmigen Gesang umspielte. Engelsgleich, blitzsauber, und mit beeindruckender Tiefe im Alt präsentierte sich Sjaella in der nicht ganz leichten Akustik des Museums der Bildenden Künste. Der Klang des Zinks verschmolz so perfekt mit den hohen Frauenstimmern, dass die Vokalität dieses Instruments sehr deutlich wurde. Meléndez ist ein Meister seines Fachs, der hochvirtuos und stilgetreu in der Art von Girolamo Dalla Casa, Giovanni Battista Bovicelli und Francesco Rognoni zu diminuieren vermag. Ein glanzvoller Abschluss des Festivals im ausverkauften Saal.

Die historische Improvisation ist ein weites Feld und ihre Zugänge und Methoden der Vermittlung sind mannigfaltig. Das war in den insgesamt zwölf Workshops einmal mehr zu erleben. Als Teilnehmende konnte man sich täglich einen neuen der wechselnden Workshops und -dozenten auswählen, und so verschiedene Wege beschreiten, sich der historischen Improvisation im eigenen Tun anzunähern. Das wurde gern von Profis, Laien, Jugendlichen und Tanzinteressierten angenommen. Kein Workshop war überfüllt, sodass alle oft genug zum Zuge kamen und mit mehr Anregungen als umsetzbar im Gepäck die Heimreise antraten. Auch bei den beiden Sessions konnten sich alle Improvisationswilligen austoben, und so gab es zwei stimmungsvolle Abende mit den Sessionmastern Jostein Gundersen, Michael Spiecker und Mareike Greb, an denen sogar auch getanzt wurde. Auch Martin Erhardt konnte es sich nicht verkneifen, den einen oder anderen musikalischen Impuls zu setzen – sehr zur Freude des Publikums und zur Adrenalinerhöhung der Musizierenden.

Die beiden Vorträge waren Blicke in sehr spezielle Welten, nämlich die der vokalen Improvisation. Ivo Haun de Oliveira zeigte am praktischen Beispiel, wie das Singen nach der Guidonischen Hand funktioniert und Ariane Jeßulat sprach über „Super librum cantare“, das mehrstimmige Improvisieren im Ensemble anhand kontrapunktischer Regeln.

Das zweijährliche Treffen der Alte-Musik-Impro-Szene konnte auf der Basis der 3G-Regeln stattfinden, was für Teilnehmende, Ausführende und das Publikum ein großes Glück war. Bei bestem Wetter war die Festivalzentrale im Innenhof der Musikhochschule aufgeschlagen worden und ein Team von Helfenden kümmerte sich um Anmeldung, Pausenverpflegung, Ticketbestellungen und einen kleinen Notenverkauf. Ein großer Dank gilt Martin Erhardt und allen Beteiligten, u.a. der Agentur Dreh- und Angelpunkt aus Leipzig, für die Organisation und den langen Atem, dieses außergewöhnliche Festival gerade in diesen Zeiten durchzuführen.

2019

Fotografen: Tom Werzner, Martin Erhardt

EX TEMPORE – 6. Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik, 19.-22. September 2019

Bericht von Andreas Neuhaus

Alle 2 Jahre wird Leipzig zum Mekka der historischen Improvisation: zum 6. Mal versammelten sich Spezialisten und Vorreiter mit interessierten Teilnehmern, um Alte Musik nach historischem Vorbild zu improvisieren in der Stadt im Norden Sachsens. Vier Tage lang, vom 19. bis 22. 9., wurde unter dem neuen Festivaltitel EX TEMPORE, also aus der Zeit heraus gespielt. Der neue Titel will zum einen an dem historischen Begriff „extemporieren“ anknüpfen, zum anderen Alte Musik so präsentieren, dass sie „gar nicht gealtert, sondern immer noch so jung wie sie damals war, als ob sie aus der Zeit herausgefallen wäre“ (Martin Erhardt im Festivalprogramm).

Spezialisten und Teilnehmer vereinte das Interesse und die Neugierde am offenen nicht notierten Musizieren, am besonderen Moment, in dem Einmaliges entsteht und erfahrbar wird.

Das bewährte Konzept von Workshops, Konzerten, Vorträgen und JamSessions bildete den Rahmen für musikalische Erlebnisse im Hier und Jetzt.

Vier hochkarätige Konzerte mit mehr oder weniger improvisatorischen Elementen setzten Maßstäbe:

Leipzig Anno 1684 war der Titel des Eröffnungskonzerts mit dem Gambisten Paolo Pandolfo, Martin Erhardt am Cembalo und dem Ensemble 1684 unter der Leitung von Gregor Meyer. Madrigale und Motetten traten im historischen Speisesaal des Leipziger Hauptbahnhofs in Dialog mit Diminutionen und Improvisationen. Den Kern bildeten Madrigale und Diminutionen von Rognoni, Bassano, de Rore und Bonizzi, die zuerst vom Ensemble 1684 vokal, dann von Paolo Pandolfo mit Schnelligkeit und rhythmischer Raffinesse, aber gleichzeitig mit ruhigem Puls vorgetragen wurden. So war das zugrunde liegende Madrigal immer präsent. Zum Anfang und Schluss erklangen Motetten von Schütz und Rosenmüller, die von den Sängern geistreich, energiegeladen und immer am Affekt gesungen wurden. Hier bildeten die Strukturen, Affekte und zum Teil Bassmuster Ausgangspunkte für improvisierte Einschübe von Paolo Pandolfo und Martin Erhardt. Berührend und doch ganz selbstverständlich, wie nah Schütz und Rosenmüller improvisierter Musik ist, wenn sie so lebendig und energiereich gesungen wird!

Kopenhagen 1634: Der Geigenwettstreit war der Titel des zweiten Konzerts, in dem Mechthild Karkow als Johann(a) Schop, Matthieu Camilleri als Jacques Foucart und Jan Katzschke als Heinrich Schütz in der Alten Börse auftraten. Nachgespielt wurde ein Wettstreit, der einem Bericht von Johann Rist zufolge anlässlich der Fürstenhochzeit am dänischen Hof zwischen Schop und Foucart stattgefunden haben soll.

Herrlich moderiert von Jan Katzschke alias Heinrich Schütz traten die beiden Geiger abwechselnd und auch zusammen auf. Im Mittelpunkt standen Improvisationen von Suitensätzen mit und ohne Bass wie Allemande, Courante, und – ganz modern – Sarabande, einer Toccata u.A. Ein Höhepunkt war die improvisierte Fassung der Lachrimae Dowlands (die ja auch in Kopenhagen seinerzeit entstanden war), bei der sich beide Geiger abwechselten. Daneben erklangen Eigenkompositionen der beiden Probanden aus der Sammlung ‘t Uitnement Kabinet. Neben der überzeugenden Intensität und gleichzeitigen Leichtigkeit der beiden virtuos aufspielenden Geiger bot das Konzert ein besonders gelungenes Beispiel für eine charmante, informative und unterhaltsame Moderation, und somit Kommunikation mit dem Publikum.

London Anno 1665: Improvisierter Tanzball. Im dritten Konzert, wieder im historischen Speisesaal des Hauptbahnhofs trafen die Tanzmeister Mareike Greb und Bernd Niedecken auf das Ensemble all´improvviso mit Michael Spiecker, Martin Erhardt, Miyoko Ito und Christoph Sommer, sowie „special guest“ Ian Harrison. Improvisiert wurde jetzt sowohl Musik wie auch Tanz.

Vorbereitet worden war der Tanzball durch einen Workshop mit 16 versierten Tänzern, die Erfahrung in englischen Countrydances mitbrachten. Die Zuhörer und -schauer kamen in den Genuss von improvisierten Choreographien, die improvisiert begleitet wurden. Der Tanzball war so in jeder Hinsicht einzigartig – etwas Besonderes, in einer Zeit wo wir doch gewöhnt sind praktisch alles in Ton und Bild immer wieder anzusehen, googeln und kopieren zu können. Ausgelotet wurden Möglichkeiten von einstudierten Choreographien über spontane Tanzfolgen, die auf Zuruf entstanden (nah am Square Dance) bis zum von Mareike Greb wiederentdeckten historischen Tanz-Kartenspiel, bei dem die Zuhörer die Figuren aus einem Kartenstapel ziehen konnten, um sie wenige Augenblicke später schon live erleben zu können. 

Venezia Anno 1610

Im Abschlusskonzert im Museum für Musikinstrumente glänzte Sietze de Vries an der Silbermannorgel mit Improvisationen von Toccaten, über Psalmen aus dem Genfer Psalter u.A. Seine Spielweise zeichnet sich durch ein schier unbestechliches Dahinströmen aus, das erahnen lässt, wie weit er imstande ist, im Moment der Improvisation in die Zukunft zu blicken – ähnlich einem Schachmeister, der immer einige Züge in die Zukunft denkt.

In Dialog mit ihm trat der sich selbst auf der Laute begleitende Sven Schwannberger, u.A. mit einer improvisierten Vertonung des Stabat Mater über dem Lamentobass. Dass er erkältet war, ließ sich leider nicht ändern – trotzdem war es eine Bereicherung, ihn im Konzert zu erleben. Er verstand es, dem ganzen Festival einen Bogen zu verleihen: Beim Eröffnungskonzert hatte er das Schützsche „Lobe den Herren“ gehört und wurde dazu inspiriert, nun beim Abschlusskonzert seine eigene monodische Bearbeitung davon vorzutragen. Schöner kann sich der Kreis kaum schließen.

Für die aktiven Teilnehmer boten täglich fünf Stunden Workshops reichlich Zeit zum Lernen, Probieren und Festigen von historischen Improvisationsmodellen. Und dies ist der große Wert des Festivals: die Kombination aus herausragenden Beispielen in den Konzerten und der reichlichen Workshopzeit zum selber aktiv musizieren. 

Insgesamt wurden 14 Workshops angeboten: für Instrumentalisten unterrichteten Jostein Gundersen, Adrien Pièce, Matthieu Camilleri, Miyoko Ito, Mechthild Karkow und Ian Harrison, für Tasteninstrumente Sietze de Vries, Jan Katzschke und Panagiotis Linakis, für Sänger Niels Berentsen, Sven Schwannberger und Martin Erhardt, für Tänzer Mareike Greb und Bernd Niedecken. Inhalt der Workshops waren verschiedene Techniken zur Improvisation. Für die Instrumentalisten wurden gleichzeitig die schon traditionellen JamSessions am Freitag und Samstag vorbereitet.

In einem Kinder- und Jugendworkshop erarbeitete Michael Spiecker zur Schildbürger-Geschichte von der versunkenen Glocke Improvisationen, die im Teilnehmerkonzert und bei der zweiten Jam Session vorgeführt wurden und begeistert aufgenommen wurden!

Ganz klar die Höhepunkte der Spontaneität waren wieder zwei Alte Musik JamSessions. Sessionmaster am Freitag im „Telegraph“ war Jostein Gundersen, am Samstag im historischen Speisesaal im Hauptbahnhof Michael Spiecker. Grounds bildeten die Grundlage von vorbereiteten und spontanen Gruppenimprovisationen, bei denen viele Runden zur Kreativität anregten und die Möglichkeiten und Grenzen der Grounds ausgelotet wurden. Am Samstag waren auch Jugendliche beteiligt. Gerade das Zusammentreffen der Profis mit den Teilnehmern mit viel und wenig Erfahrung macht den Reiz der JamSessions aus.

Über zwei Vorträge, die wissenschaftlich fundierte Impulse setzten, gilt es noch zu berichten: Niels Berentsen berichtete packend über improvisierte Vokalpolyphonie im 14. und 15. Jahrhundert und gab Einblicke in sein Dissertationsthema: Spannend, wie mündliche Praxis und Notation zusammenwirken. Workshopteilnehmer demonstrierten polyphone Vokalimprovisationen. Sven Schwannberger brach mit seinem Vortrag „Soavi accenti: Lieblichkeit als Schlüssel zum Verständnis barocker Gesangskunst“ eine Lanze für eine auf Anmutigkeit ausgerichtete Gesangsweise. Anschaulich dabei die Hörbeispiele von der Jahrhundertwende um 1900, in denen eine leichte, liebliche Singkunst hörbar wurde. Ich kenne ähnliche Beispiele auch instrumental (z.B: von Joseph Joachim, noch vor dem Diktat des überdichten Tones und des Dauervibratos).

Leipzig hat sich dank Martin Erhardt und seinem Team wieder gelohnt. Mit reichlich Musik und Grounds im Ohr und gespannt auf mehr Improvisationsgelegenheiten und die nächste Auflage von EX TEMPORE 2021 fuhren die Teilnehmer am Sonntag nach dem Abschlusskonzert zurück.

2017

Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik LivFe! 2017

von Martin Heidecker

Vom 21.-24. September 2017 fand bereits zum fünften Mal das Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik statt. Das reichhaltige Programm mit Workshops, Vorträgen und Konzerten von international gefragten Spezialisten für historische Improvisation sowie den beliebten JamSessions für Alte Musik ließ bereits im Voraus auf eine hochkarätige Veranstaltung schließen!

Dreh- und Angelpunkt des Festivals bildeten von Freitag bis Sonntag die jeweils fünfstündigen Tagesworkshops, zu denen sich über 50 TeilnehmerInnen (u. a. aus Belgien, Holland, Finnland, Norwegen und der Schweiz) angemeldet hatten. Zur Auswahl standen die verschiedensten Kurse mit unterschiedlichen Schwerpunkten, so dass mancher Teilnehmer bedauerte, sich nicht zerteilen zu können, um noch mehr Kurse zu besuchen: Daniel Beilschmidt (D), Rudolf Lutz (CH) und Patrick Ayrton (F): Tasteninstrumente; Marco Ambrosini (I), Michael Spiecker (D) und Martin Erhardt (D): alle Instrumente in 415 Hz; Corina Marti (CH), Jostein Gundersen (N) und Bor Zuljan (SVN): alle Instrumente in 440 Hz; Annegret Fischer (D): Grundlagen der historischen Improvisation und Session-Training Alte Musik; Jean-Yves Haymoz (CH) und Pierre Funck (CH): vokale Improvisation; Mareike Greb (D) & Christophe Deslignes (F): Tanz im Mittelalter. Bei allen Kursen ging es um das praktische Ausprobieren und Üben improvisatorischer Techniken. Interessant war dabei für mich die unterschiedliche Herangehensweise der einzelnen Dozenten: So wurde z. B. bei Michael Spiecker sehr genau untersucht, welche Themen, Intervalle und Rhythmik Ortiz selbst in seinen Recercaten verwendete, wie er die einzelnen Variationen miteinander verknüpfte und was das für uns bedeutet, wenn wir im Stil seiner Zeit improvisieren wollen. Marco Ambrosini ging es darum, den TeilnehmerInnen durch ständiges Verändern eines bekannten Harmonie-Schemas (La Follia) bis zur Unkenntlichkeit (nun alle Akkorde in moll, dann alle in Dur, dann das ganze Schema invers: alle Dur-Akkorde in moll und Moll-Akkorde in Dur usw.) den Boden unter den Füßen wegzuziehen, so dass evtl. bereits eingefahrene Improvisationsgewohnheiten geändert werden mussten. Bei Jean-Yves Haymoz und Pierre Funck hatten die TeilnehmerInnen die Möglichkeit, in kleinen Gruppen selbst beispielsweise das Improvisieren kleiner Kanons, die Improvisation eines Fauxbourdons oder einer Altstimme zu einem Tenor, der im Diskant in Dezimen begleitet wurde, auszuprobieren. Alles sehr spannend und gar nicht so einfach, wenn man so etwas noch nie gemacht hat! Aber es wurde viel gelacht und die „Fehler“ wurden großzügig im Papierkorb entsorgt… Bemerkenswert und erfreulich war für mich der hohe Anteil an jungen Leuten unter den KursteilnehmerInnen, für die der Umgang mit historischer Improvisation offensichtlich schon etwas Vertrautes war! Entsprechend hoch war auch die aktive Beteiligung an den beiden spätabendlichen JamSessions, die teilweise bis in die frühen Morgenstunden hinein der offensichtlichen Spiel- und Tanzfreude der TeilnehmerInnen freien Lauf ließen. Jostein GundersenAnnegret Fischer und Michael Spiecker fungierten perfekt als Sessionmaster und sorgten für eine gelungene Mischung aus Solo- und Gruppenspiel, wobei die in den Workshops geübten Themen mit einbezogen wurden. Hier wurde auch deutlich, welche breite Palette an alten Instrumenten die TeilnehmerInnen repräsentierten: Von den verschiedensten Streichinstrumenten über Block- und Traversflöte bis hin zu Barockoboe, Barockfagott, Barockposaune, Laute und Schlagzeug war hier alles vertreten.

Am Nachmittag standen freitags und samstags zwei interessante Vorträge auf dem Programm: Jean-Yves Haymoz erläuterte – u. a. mit einigen live vorgeführten Beispielen – die Entwicklung der vokalpolyphonen Improvisation und die verschiedenen Quellen, die diese ausführlich belegen. Rudolf Lutz sprach über den Improvisationsstil J. S. Bachs, wobei er sich durchaus nicht nur auf Bach beschränkte: Bezaubernd, ausdrucksstark und zugleich mit äußerster spielerischer Leichtigkeit gab er Kostproben seines unglaublichen improvisatorischen Könnens: „Welches Thema wollen Sie? Ich sehe, sie sind für „Let it be“! In welcher Tonart bitte?“ Und schon folgte eine vierstimmige Bachfuge über „Let it be“ und gleich noch ein Klavierstück von Brahms und von Mendelssohn zur selben Thematik dazu… Allein so ein Vortrag und die Möglichkeit, einen Musiker dieses Formats einmal live zu erleben, lohnt schon die weite Anreise!

Vier Konzerte mit größtenteils improvisierter Musik standen abends auf dem Programm, die sich jeweils der Stilistik einer bestimmten Zeit widmeten:

Einen äußerst gelungenen und vielversprechenden Auftakt lieferte am Donnerstagabend ein „Anno 1400: Tanzkonzert – Chominciamento di gioia“ im historischen Speisesaal des Hauptbahnhofs. Mareike Greb (D) – Tanz, Simon Flamm (D) – Jonglage, Christophe Deslignes (F) – Organetto und Tanz, Marco Ambrosini (I) – Schlüsselfidel und Martin Erhardt (D) – Organetto und Blockflöte boten ein vergnügliches Gesamtkunstwerk, in dem es mit großem Einfallsreichtum, viel Abwechslung und einer großen Prise Humor um die „siebenfaltige Symbolik des Apfels“ ging. Die Musiker inspirierten genauso zu Tanz und Jonglage wie Jonglage und Tanz wiederum die Musik beeinflussten. Der rote Apfel zog sich wie ein roter Faden durchs Programm: Die Sage vom Urteil des Paris wurde da schon einmal umgedeutet, indem die Tänzerin als einzige Frau nacheinander je einem der drei männlichen Musiker den Apfel reichte, woraufhin dieser den nächsten Soloteil improvisieren musste. Gegen Ende des Programms verschwand dann der Apfel als einer von drei Jonglierbällen Bissen für Bissen im Mund des Jongleurs…

Am Freitag folgte im UT Connewitz, dem ältesten Lichtspieltheater Leipzigs von 1912, „Anno 1550: KAIROS – italienische Improvisationen – frottole, ottave rime, ricercari …“ mit dem kurzfristig für Vivabiancaluna Biffi eingesprungenen Enea Sorini (I) – Bariton, Corina Marti (CH) – Cembalo und Bor Zuljan (SVN) – Laute. In dieser im Vergleich eher intimen Besetzung wurde ausgesprochen klangschön und mitreißend musiziert und improvisiert. Das Publikum bekam so eine Ahnung, wie vielfältig und auch z. T. revolutionär die Musizierpraxis in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts in Italien gewesen sein muss.

„Anno 1630: Zink über Chor“; Werke von Clemens non Papa, Schütz, Lasso, Calvisius, Purcell, Lotti, Knüpfer, Kuhnau, Krieger und J. S. Bach mit Doron D. Sherwin (USA) – Zink und dem Vocalconsort Leipzig unter Leitung von Gregor Meyer (D) standen am Samstag auf dem Programm – im Museum der bildenden Künste. Ein äußerst glückliches Zusammentreffen eines ausdrucksstarken Spitzenchores (der im Unterschied zu vielen anderen Chören sogar reine Terzen singen kann!) mit einem der weltbesten Zinkenisten. Dabei drängte sich Doron D. Sherwin nie in den Vordergrund, sondern setzte vor allem in den Tuttistellen zusätzliche Glanzlichter, die den jeweiligen Affekt noch verstärkten, aber nie überdeckten. Passend zu den modernen Kunstwerken im Saal gerieten Chor und Zink dann durchaus sicht- und hörbar auch einmal auf Abwege, wenn der Text hieß „und siehe, ob ich auf bösem Wege bin“ und fanden sich harmonisch wieder zusammen beim „leite mich auf ewigem Wege“.

Noch (!) ein absoluter Höhepunkt war dann am Sonntag das Abschlusskonzert im Kammermusiksaal der Musikhochschule: „Anno 1717: Orgelkonzert: Bach & Marchand – Kein Duell, aber ein Dialog“. Rudolf Lutz (CH) als Johann Sebastian Bach & Daniel Beilschmidt (D) als Louis Marchand holten hier sozusagen 300 Jahre später ein von Bach vorgeschlagenes Treffen nach, das so nie stattgefunden hat. Neben ihren gegenseitig vorgestellten, zutiefst beeindruckenden und berührenden Improvisationskünsten (z. B. ein bombastisches Orgelpräludium, das leider in keinem BWV zu finden ist oder eine sehr delicate Suite im französischen Stil von „Marchand“) war hier vor allem auch spannend zu erleben, mit welch großer Wertschätzung sich die beiden Musiker gegenseitig Aufgaben stellten, bei denen es eben nicht darum ging, den jeweils anderen auszustechen, sondern ihn in seinem Können zu ungeahnten Höchstleistungen zu beflügeln. Ein Beispiel dafür war sicherlich die von Rudolf Lutz als „Bach“ auserbetene biblische Historiensonate (nach dem Vorbild der bekannten Stücke von Bachs Vorgänger Kuhnau) zur Geschichte der Emmaus-Jünger in vier Stationen, die Daniel Beilschmidt als „Marchand“ äußerst einfühlsam und bravourös meisterte. 

Fazit: Das Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik 2017 war ein voller Erfolg, zu dem man dem Leiter und Organisator Martin Erhardt nur ganz herzlich gratulieren kann! Die Resonanz der TeilnehmerInnen aus ganz Europa zeigt, dass sich dieses in Deutschland einzigartige Festival auch international etabliert hat. Schon jetzt darf man gespannt sein auf das nächste Improvisationsfestival für Alte Musik 2019!


2015

Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik LivFe! 2015

von Kathrin Burkhart-Sertkaya

Vom 17.-20. September 2015 fand das Leipziger Improvisationsfestival für Alte Musik LivFe! zum vierten Mal statt! In Workshops, Konzerten, Jamsessions und einem Vortrag widmeten sich MusikerInnen, TänzerInnen, StudentInnen und Laien der Improvisation Alter Musik.

Ganz unterschiedliche Epochen und Improvisationsstile wurden dabei in den ganztägigen Workshops behandelt. Die Dozenten des Festivals waren Musiker aus dem In- und Ausland, die sich in ihren jeweiligen Spezialgebieten bewegten. Von den Möglichkeiten der Improvisation über einen Cantus firmus, über Diminutionsstile bis schließlich zur Improvisation über Grounds ließ sich alles finden: Sessiontraining mit Hans Knut Sveen (Bergen), Various vocal improvisation techniques mit Peter Schubert (Montreal), Improvisation an Tasteninstrumenten mit Dirk Börner (Basel), Präludieren & Ostinatobässe mit Mechthild Karkow (Leipzig), Englische & schottische Divisions zwischen Folk und Kunstmusik mit Ian Harrison (Freiburg), Divisions to excellent Grounds mit Jostein Gundersen (Bergen), Cantare super librum mit Martin Erhardt (Halle), modale, thematische und motivische Improvisation mit Marco Ambrosini (Hatzfeld), Organum Notre-Dame 12./13. Jh mit Raphaël Picazos (Frankreich), Vokale und instrumentale Polyphonie 15./16. Jh mit Barnabé Janin (Frankreich), Das Diminuieren als Ornament der Polyphonie mit William Dongois (Paris) und Skizzen zur Improvisation von W.A.Mozart mit Anne Freitag (Leipzig). Erstmals fand auch ein Workshop für Kinder und Jugendliche von 11-18 Jahren statt, den der Barockgeiger Michael Spiecker aus Leipzig leitete und der sehr gut angenommen wurde.

Inspiriert durch die neuen Improvisationserfahrungen wurden viele der Kursteilnehmer auch bei den beiden spätabendlichen JamSessions aktiv und präsentierten einige Ergebnisse der Workshops. Alle Anwesenden konnten hautnah erleben, wie unglaublich lebendig, frisch und voll bunter Vielfalt Alte Musik trotz (oder gerade wegen) stilistischer Gebundenheit klingen kann, und welch tiefe Affinität wir auch heute noch zu jahrhundertalten Melodien aufbauen können.

Die täglichen Konzerte am frühen Abend waren jedes für sich ein Höhepunkt. Auch wenn natürlich nicht jede Note spontan erfunden wurde, und auch alte Kompositionen erklangen, so war doch in jedem Konzert die historische Improvisation das entscheidende Element der Konzertdramaturgie, das die Alte Musik ins Hier und Jetzt holte.

Das festliche Eröffnungskonzert gab das Ensemble all`improvviso mit Mechthild Karkow, Barockvioline; Michael Spiecker, Barockvioline; Martin Erhardt, Blockflöte; Miyoko Ito, Viola da Gamba; Christoph Sommer, Laute; sowie den TänzerInnen Jutta Voß, Mareike Greb, Bernd Niedecken und Niels Badenhop in der Alten Börse. Es trug den Titel „Der rechtschaffene Tantzmeister“ und verband musikalische mit choreographischer Improvisation. Unter anderem improvisierten die ambitionierten MusikerInnen Mechthild Karkow, Martin Erhardt und Miyoko Ito eine ganze Triosonate im Stil von Corelli, Händel und Barsanti. Auch niedergeschriebene Choreographien des Tänzers Raoul Auger Feuillets kamen zur Aufführung.

Das Familienkonzert „Robin Hood“ von The Early Folk Band im Historischen Speisesaal des Hauptbahnhofs wurde vom Publikum euphorisch gefeiert. Die MusikerInnen Miriam Andersén (Gesang, Harfe, Snatterpinnar, Triangel), Gesine Bänfer (Hackbrett, Cister, Northumbrian Smallpipes, Flageolet, Rahmentrommel, Gesang), Susanne Ansorg (Fidel, Gesang), Ian Harrison (Northumbrian Smallpipes, Flageolet, Zink, Gesang) und Steve Player (Barockgitarre, Cister, Tanz, Gesang) wurden von Marco Ambrosini (Schlüsselfidel) als Gast improvisierend begleitet. Das Ensemble erzählte mit Liedern und Tänzen des 17. und 18. Jh. Geschichten aus dem Leben Robin Hoods.

„Improvisations à livre ouvert“ nannte Obsidienne ihr Konzert. Das fünfköpfige Ensemble mit Hélène Moreau (Cantus, Psalterium), Emmanuel Bonnardot (Altus, Rebec, Fidel), Barnabé Janin (Tenor, Fidel), Raphaël Picazos (Tenor) und Justin Bonnet (Bariton) wurde ergänzt durch special guest William Dongois (Zink). Kunstvolle Improvisationen über Gesänge aus dem Graduale der Leipziger Thomaskirche sowie vokale und instrumentale Kompositionen erklangen in der Lutherkirche. Einen Cantus firmus komponierte Festivalleiter Martin Erhardt auf Wunsch des Ensembles am Ende des Konzertes selbst, zur ganz spontanen Improvisation.

Das Abschlusskonzert „Die wahren Empfindungen“ gaben Bernhard Klapprott aus Weimar und Joel Speerstra aus Göteborg im Museum der bildenden Künste am Clavichord. Dabei war das selbstgebaute Duo-Clavichord von Joel Speerstra als das erste seiner Art mit einer vierhändigen Improvisation zu „La Folia“ zu erleben. Die Musik C. Ph. Emanuel Bachs erfuhr auf den leisen Instrumenten und interpretiert von den beiden hervorragenden Musikern eine derartige Intensität, dass sich die verbliebenen Teilnehmer am Sonntag abend äußerst berührt auf den Heimweg machen konnten. 

Die steigende Teilnehmerzahl auch in diesem Jahr zeugt sowohl vom wachsendem Interesse für eine alte Musizierpraxis als auch vom großen Erfolg der Initiative von Festivalleiter Martin Erhardt. Inspiriert durch drei intensive Tage für weitere Studien und Jamsessions in Leipzig, Dresden, Amsterdam oder anderswo, lässt es sich froh vorausschauen ins Jahr 2017: zur geplanten nächsten Edition des Leipziger Improvisationsfestivals für Alte Musik!


2013

Leipziger Improvisationsfestival LivFe!

von Gérard Rebours

Die dritte Edition des Leipziger Improvisationsfestival LivFe!  (Leipziger ImproVisationsFEstival) fand vom 19. bis 22. September statt. Überfüllte Konzerte und ein enthusiastisches Publikum sorgten dafür, dass diese glückliche Initiative des Blockflötisten und Organisten Martin Erhardt einmal mehr von einem schönen Erfolg gekrönt war.

2011 bereits wurde Pascale Boquet, Meisterin ihres Faches und Autorin der Sammlung „50 Standards Renaissance et Baroque“ zum Festival eingeladen, und 2013 hatte ich selbst als Co-Autor das gleiche Vergnügen.

Vormittags und nachmittags wurden die etwa 30 Workshopteilnehmer in drei Gruppen mit verschiedenen praktischen und theoretischen Themen eingeteilt (vokalpolyphone Improvisation, melodische Diminution, Improvisation auf einem Tasteninstrument, Christopher Simpsons Methode, usw. usw.), Spiegelbild der Spezialgebiete der einzelnen Dozenten (Jostein Gundersen, Hans Knut Sveen, Gérard Rebours, Poul Høxbro, Martin Erhardt, Freddy Eichelberger, William Dongois und Maurice van Lieshout).

Jeweils am frühen Abend ermöglichte uns ein auf Improvisation basiertes Konzert, Le Concert Brisé und Doron Sherwin, das Ensemble all’improvviso, Poul Høxbro, und das Duo Paolo Pandolfo – Thomas Boysen zu hören. Zum Abschluss des Festivals schließlich vereinigten The Scroll Ensemble und The Playfords ihre Stärken, um eine Choreographie musikalisch zu untermalen, die Béatrice Massin in drei Tagen mit den 10 Teilnehmern ihres Tanzworkshops ausgearbeitet hatte.

Schließlich gab es an zwei späteren Abenden noch JamSessions, die zunächst ein kleines Konzert präsentierten – einmal tat ich selbst mich mit Les Matelots für ein ebenso ernstes wie verrücktes Programm zusammen. Anderntags formierten sich mit Jostein Gundersen (Blockflöte) und Hans Knut Sveen (Cembalo) sowie Nora Thiele (Perkussion) und Poul Høxbro (Einhandflöte & Trommel) spontan zu zwei ebenso exzellenten wie kurzlebigen Duos. Im Anschluss daran, bis ein Uhr nachts, tummelten sich Studenten und Profis auf der Bühne für einen ganz langen Augenblick der Improvisation, festlich und freudevoll, wobei Lauten, Gitarren, Geigen, Flöten, Gamben, Oboen, Fagott, Cembalo, aber auch Perkussion, Serpent und Nickelharpa miteinander verkehrten.

Zeitweise, durch Jostein Gundersen geleitet, wurde das Ensemble ganz rund, jeder konnte sich ohne Komplexe musikalisch ausdrücken, im Hintergrund wie im Rampenlicht, wohingegen da und dort Dialoge und Wechselspiele auftauchten: Was für ein schönes Fest der Musik voller Schwung, und auf beeindruckend hohem musikalischem Niveau! Denn selbst wenn die Improvisation vielleicht manchmal dem «Gefühl» überlassen wird, so erfordert sie doch immer eine solide theoretische Basis und gut geschärfte Reflexe. Aber ganz eindeutig besitzen diese Musiker diese Fähigkeiten und pflegen sie im Rahmen dieser «JamSessions», die übrigens regelmäßig auch außerhalb des Festivals stattfinden. Das erklärt natürlich die Ungezwungenheit und die rege Beteiligung, die auf der Bühne herrscht.

Und wer bei Improvisation nur an melodische Diminution und Ostinatobässe denkt, wurde von den Musikern des Scroll Ensembles eines Besseren belehrt: Sie improvisierten eine Fuge für Solovioline über Bachs Motette Jesu, meine Freude, eine Tanzsuite über den Bass der Goldbergvariationen und eine Fantasie über dem Hexachord.

Denn, vergessen wir nicht: Wir sind in der Stadt wo Bach, Komponist und Improvisator sondergleichen, seine letzten 27 Lebensjahre verbrachte. Das von Martin Erhardt kreierte Festival erweist auch ihm die Ehre und verleiht der Pflege der Alten Musik einen beispiellosen Aufschwung in diesem unverzichtbaren, aber immer noch oft vernachlässigten Element: Der Improvisation.


Festival de L’Improvisation à Leipzig

von Gérard Rebours

La troisième édition du LIVFE (Leipziger ImproVisations FEstival) a eu lieu du 19 au 22 septembre dernier. Concerts bondés, public et participants enthousiastes, cette heureuse initiative due au flûtiste et organiste Martin Erhardt connut encore une fois un beau succès. 

Pour sa maîtrise du sujet et son recueil, les „50 Standards Renaissance et Baroque“, Pascale Boquet fut l’invitée du festival de 2011, et j’eus le plaisir de lui succéder cette année.

Matin et après-midi, une trentaine d’étudiants se répartissaient dans trois ateliers théoriques et pratiques (improvisation polyphonique vocale, la diminution mélodique, improvisation au clavier solo, l’approche de Christopher Simpson,…), reflet des tendances propres à chaque enseignant (Martin Erhardt, Jostein Gundersen, Hans Knut Sveen, Poul Høxbro, William Dongois, Freddy Eichelberger, Maurice van Lieshout, et Gérard Rebours). 

Chaque fin d’après-midi, un concert basé sur l’improvisation nous permit d’entendre le Concert Brisé et Doron Sherwin, l’ensemble All’improvviso, Poul Høxbro, le duo Paolo Pandolfo – Thomas Boysen et, pour clore le festival, le Scroll ensemble et les Playfords qui joignirent leurs talents pour soutenir une chorégraphie élaborée en trois jours par Béatrice Massin avec une dizaine de stagiaires.

Enfin, deux soirées conviviales, dans des restaurants de la ville, proposaient d’abord un concert pour lequel je me joignais aux Matelots dans un programme aussi sérieux que cocasse le premier soir, et où Jostein Gundersen (flûte) et Hans Knut Sveen (clavecin), ainsi que les percussionnistes Nora Thiele et Poul Høxbro, formèrent deux aussi excellents qu’éphémères duos le second soir. Ensuite, et jusqu’à une heure avancée de la nuit, étudiants et professionnels allèrent et vinrent à leur gré pour un long moment d’improvisation festif et réjouissant où se côtoyaient luths, guitares, violons, flûtes, violes, hautbois et basson, mais aussi percussions, serpent, nyckelharpa et même saxophone alto! Parfois guidé par Jostein Gundersen, l’ensemble tournait bien rond, chacun pouvait s’y exprimer sans complexe, en background comme en pleine lumière, tandis que des dialogues et des échanges apparaissaient çà et là: un belle fête musicale pleine d’entrain, révélant un impressionnant niveau musical. Car si l’improvisation peut être parfois abordée „au feeling“, elle nécessite surtout de solides bases théoriques et des réflexes instrumentaux bien aiguisés. De toute évidence, ces musiciens les possèdent, et les améliorent au cours de ces „jam-sessions“ qui ont d’ailleurs lieu régulièrement, et pas seulement pendant le festival – ce qui explique l’aisance et la complicité règnant sur la scène. 

Et si l’on a tendance à ne penser à l’improvisation qu’en terme de diminutions mélodiques ou de variations sur un ground, les membres du Scroll Ensemble montrèrent une voie encore plus large en improvisant une fugue au violon seul d’après le motet Jesu, meine Freude de Bach, ou encore une suite de danses sur la basse des variations Goldberg.

Car, ne l’oublions pas, nous étions dans la ville où Bach, compositeur et improvisateur hors pair, passa les 27 dernières années de sa vie. Le festival créé par Martin Erhardt lui rend ainsi hommage et donne un essor sans précédent à cet élément indissociable de la musique ancienne, mais assez souvent négligé: l’improvisation. Le virage s’annonce, cependant, comme cet événement le prouve, et aussi grâce à la publication de plusieurs supports écrits: alors que paraissaient les „50 Standards“, en 2006, Martin Erhardt concevait un recueil plus analytique sur le sujet (parution imminente en anglais), et William Dongois se préparait à nous offrir son expérience de la diminution avec Apprendre à improviser avec la Musique de la Renaissance, (éd. Color & Talea). Paru plus récemment, Chanter sur le Livre, dédié aux musiques vocales des XVe et XVIe siècles, et écrit par Barnabé Janin, est déjà en ré-impression.


2011

Erfrischende Musikkultur

von Michael Spiecker

Wer sich mit den historischen Quellen alter Musik befasst wird schnell erkennen, dass es kaum einen besseren Weg gibt sich einer Epoche vor 1800 zu nähern als die Improvisation. Noch im 18. Jahrhundert wirkten die Musiker meist gleichermaßen als Interpret, Komponist und Improvisator. Beim 2. Leipziger Improvisationsfestival LivFe! vom 15. bis 18. September 2011 konnte man erleben, dass es europaweit heute eine ganze Reihe Musiker gibt, die sich auf höchstem Niveau in die Klangsprachen vergangener Epochen eingearbeitet haben und mit großer Virtuosität darin improvisieren.

In drei Workshops konnten gut 30 Teilnehmer verschiedene Improvisationspraktiken erlernen und diese gleich an zwei Abenden bei JamSessions im Restaurant Mega Pon in die Tat umsetzen. Dafür hilfreich waren vor allem die Workshops zur Improvisation über Ostinatobässe des 16. bis 18. Jahrhunderts. Beim Norweger Jostein Gundersen wurde z. B. damit experimentiert, eine ganze Tanzsuite über dem Bass der Folia zu entwerfen. Auf diese Weise gut vorbereitet fanden sich am Abend 25 Musiker zusammen, die gemeinsam bis tief in die Nacht spielten, sangen und trommelten. „Es ist ein unglaubliches Erlebnis, die Gesichter so vieler junger Menschen zu sehen, die so beseelt sind und die so ganz frei zusammen Musik machen“, so das Fazit eines Gastes.

Ganz im Kontrast zu den ausgelassen-enthusiastischen JamSessions stand die konzentrierte Atmosphäre und knisternde Spannung der Konzerte: Beim Eröffnungskonzert im Museum für Musikinstrumente der Universität Leipzig traf Tanzimprovisation (Mareike Greb und Lieven Baert) auf improvisierte Tanzmusik (Ensemble all’improvviso). Während die Musiker traumwandlerisch sicher Basses danses im Stil des Buxheimer Orgelbuchs improvisierten, konterten die Tänzer beim Tourdion mit gekonnten Kapriolen und begeisterten das Publikum darüber hinaus durch eine facettenreiche schauspielerische Leistung.

Tags darauf konnten viele hundert Besucher in der Thomaskirche erleben, wie das Vokalensemble „Le chant sur le Livre“ bis zu fünfstimmige Motetten improvisierte. Den Sängern genügte ein Notenständer mit einigen Cantus-Firmus-Melodien aus dem Graduale der Leipziger Thomaskirche (14. – 16. Jahrhundert, ein wahrer Schatz übrigens inmitten der reichen Leipziger Musiktradition!), um daraus spontan komplexe polyphone Klanggebilde zu erschaffen. Im Workshop am nächsten Tag wurden die Kursteilnehmer von den Sängern in die Techniken der Kanon- und Fauxbourdonimprovisation eingewiesen. In Kleingruppen konnten sie selbst erste Schritte darin unternehmen.

In der alten Handelsbörse gab es Spannung pur, als Eckhart Kuper, Alexander Grychtolik (beide Cembalo) und James Hewitt (Barockvioline) kammermusikalische Werke aus dem Stegreif erfanden. 270 Jahre ist es her, dass Bach mit seinen Söhnen und weiteren virtuosen Gästen im Café Zimmermann musizierten. Nun erlebten die Hörer Solisten, die in Bachs Fußstapfen stiegen und z. B. über den Bass einer Händelsonate eine neue Triosonate fantasierten oder aus einigen bachschen Themen ein neues Doppelkonzert für zwei Cembali erfanden. Höchste Akkuratesse, mitreißende Spielfreude und eine Prise Schalk im Nacken lösten beim Publikum begeisterten Beifall aus.

Am Sonntag schließlich begab man sich nach gleichermaßen fundierten wie motivierenden Vorträgen (Markus Jans, Ludwig Holtmeier) und mit einer spannenden Podiumsdiskussion im „Gepäck“ zum Abschlusskonzert. Hier wurde dann konsequent der Dialog mit der Moderne gesucht. Die Barockmusiker Andreas Böhlen (Blockflöten), Matthieu Camilleri (Violine) und Thomas Boysen (Lauten) trafen auf das Jazzduo Timm/Brockelt (Orgel/Saxophon). Auf die hochvirtuose Fugenimprovisation für Solovioline folgte ein Jazzarrangement über das gleiche bachsche Thema. Durch das Aufeinanderprallen der konträren Stile wurden die Ohren immer wieder angeregt, sich schnell auf die neuen Klänge einzulassen. Zum Schluss badete die Michaeliskirche in Musik, als eine Passacaglia über „Aus tiefer Not schrei ich zu dir“ vorne im Barock- und von der Empore im Jazzgewand erklang.

Festivalleiter Martin Erhardt zeigte sich hoch zufrieden über den Austausch und die Begegnungen, die zwischen Leipziger und vielen von weit her angereisten Künstlern stattfanden: „Leipzig ist der perfekte Ort, um die vielen verstreuten Meister ihres Metiers zusammenzubringen.“

Die Besucher von LivFe! 2011 waren sich einig, dass es ein großes Geschenk für Leipzig war, an diesem verlängerten Wochenende mit den Gästen die kreativen musikalischen Wurzeln der Stadt wiederbeleben zu können. Aus dem Blick zurück wurde ein Erfahren im Hier und Jetzt, das die Musikkultur in Leipzig hoffentlich nachhaltig erfrischen wird.


2009

PRESSE-REVIEW

LEIPZIGER VOLKSZEITUNG VOM 11.06.2009:

Improvisationfestival LivFe! zeigt enormes Potential

Atemberaubende Momente in den Konzerten, nie gehörte Kombinationen, hervorragende Musiker, die traumwandlerisch miteinander improvisierten. Daneben inspirierende, teilweise brechend volle Workshops: Leipzig hat mit dem ersten Leipziger Improvisationfestival LivFe! eine neue Festivalperle, die beim konkreten Hinhören ein exquisites und durchdachtes Konzept sowie enormes künstlerisches Niveau offenbarte.

Vier Konzerte und fünf Workshops, in denen Instrumente und Musiker zusammen gebracht wurden, die man sich vorher kaum gemeinsam vorstellen konnte (wie die Gambe von Hille Perle und die Trompete von Markus Stockhausen), in denen Künstler entdeckt wurden, die man hier wieder hören möchte (Vokaltrio „WeBe3“ aus den USA).

Im Eröffnungskonzert zeigte die schwedische Chorkoryphäe Gunnar Eriksson mit der Leipziger Chorformation „Vokalfabrik“ und dem Berliner Vokalquartett „WOKIM“ wie man alte Kirchenmusik, Clusterklänge und Jazzcombo sinnfällig zusammen bringen kann. Seine 40-jährige Improvisationserfahrung brachte das Publikum in der Michaeliskirche dazu, einen deutschen Frühlingskanon passend und launig über südamerikanische Samba-Rhythmen zu singen, als gehörte dies schon immer zusammen.

Tags drauf zeigte das Duo Hille Perl und Lee Santana (der Crossover-Logik des Festivals folgend unter ein Neo Rauch-Bild platziert) wie Alte Musik bei Kapsberger, Abel oder Ortez virtuos improvisiert wurde. Im zweiten Teil gelang es dem fabelhaften Markus Stockhausen und seiner Partnerin Tara Bouman (Klarinetten), die Zuhörer im Bildermuseum durch überirdisch schöne Töne und Echos mit in die Weiten und Höhen dieses Raumes zu nehmen.

Der vielbeschäftigte Stockhausen jammte beim jazzigen Abschlusskonzert in der Moritzbastei dann gemeinsam mit dem Pianisten Richie Beirach in feinen Dialogen, als hätten die beiden dies schon Jahre zusammen gemacht. Vorher vibrierte die Moritzbastei durch das Vokaltrio „WeBe3“, dass es eine Freude war. Festivalinitiator Christian Fischer: „Die Resonanz des Publikums war eindeutig und teilweise euphorisch, so dass wir bis zur Neuauflage 2011 unser kleines Defizit schon kompensieren werden.“

Anja-Christin Winkler


MT-JOURNAL DER HMT LEIPZIG (AUSGABE WINTERSEMESTER 2009/10):

Im Anfang war… die Improvisation

Konzerte und Workshops beim neuen Leipziger Improvisationsfestival LivFe! 

Am Ende hatte es sich herumgesprochen, was sich da Un-Erhörtes ereignete – beim 1. Leipziger Improvisationsfestival LivFe!, für dessen Workshops die HMT Leipzig in Kooperation mit dem Regionalverband Mitteldeutschland des AMJ (Arbeitskreis Musik in der Jugend) verantwortlich zeichnete. Beim Abschlusskonzert in der Moritzbastei drängte man sich, um zu sehen und zu hören, wie dort Jazzpiano-Prof Richie Beirach mit dem Kölner Trompeter Markus Stockhausen und dem fabelhaften Vokaltrio WeBe3 aus den USA um die Wette improvisierte. Beim letzten von fünf Workshops tags drauf war der kleine Chorraum im Dittrichring der HMT Leipzig mit mehr als 50 Teilnehmern übervoll. Sie alle wollten die charismatischen 3 Amerikaner, die sonst mit Bobby McFerrin auf der Bühne stehen, nochmals erleben und nachvollziehen, wie sie ihre groovigen Circlesongs und aberwitzigen Soli aufbauten.

Das vom HMT-Dozenten Christian Fischer initiierte und organisierte Improfestival (von der LVZ immerhin mit „Leipzig hat eine neue Festivalperle“ kommentiert) hatte internationale Künstler aus ganz verschiedenen Genres zusammengeführt, die – einem dialogischen Prinzip folgend – in Doppelkonzerten zunächst für sich und am Ende stets gemeinsam improvisierten. So traf Deutschlands bekannteste Gambistin Hille Perl mit Ihrem Partner, dem Lautenisten Lee Santana, auf den Komponisten-Sohn und Trompeter Markus Stockhausen und dessen Klarinetten-Partnerin Tara Bouman, deren „Intuitive Musik“ die Weiten des Neuen Bildermuseums mit teils ruhigen , teils scharf-dissonierenden Klängen füllte. Der bekannte schwedische Chorprofessor Gunnar Eriksson, an der HMT bereits mehrfach zu Gast, animierte den Schulmusikerchor, die VOKALFABRIK, zu schwebenden Chorimprovisationen oder überraschenden Quodlibets, die wiederum vom Berliner Vokalquartett WOKIM (des ehemaligen HMT-Lehrbeauftragten Michael Betzner) mit sinnlichen Tönen oder sinnfreien Texten kontrapunktiert wurden.

Vier der Künstler(gruppen), komplettiert vom westfälischen Musikpädagogen Peter Ausländer, gaben ihre Improvisations–Ideen und –Erfahrungen in Tagesworkshops an die Studierenden, aber auch Dozenten der HMT oder Gäste aus dem In- und Ausland weiter. Das stärkste Feedback bei den studentischen Teilnehmern bekamen die amerikanischen WeBe3-Vokalisten, die sich um die Ausnahme-Künstlerin und Berklee-Dozentin RHIANNON gruppieren, sowie der vielseitige und zugleich sympathisch bescheidene Markus Stockhausen, der auch noch am Kinderkonzert beteiligt war. Am Ende hatte es sich nicht nur herumgesprochen, sondern man saß auch nach dem Abschlusskonzert in der Moritzbastei noch lange mit Künstlern und Veranstaltern zusammen und war sich einig, dass dieses Festival unbedingt eine Fortsetzung erleben sollte.

C.Petri